Das Om-Mani-Padme-Hum-Mantra
OM MANI PADME HUM
Rede des Dalai Lama, gehalten in einem
buddhistischen Zentrum in New Jersey, USA
Es ist sehr gut, das Mantra Om mani padme hum zu rezitieren. Während Sie das tun, sollten Sie aber über seine Bedeutung nachdenken, denn der Sinn dieser sechs Silben ist groß und unausschöpflich. Die erste, Om, ist aus drei Buchstaben zusammengesetzt, nämlich A, U und M. Sie symbolisieren den unreinen Körper, die unreine Rede und das unreine Bewußtsein des Übenden. Gleichzeitig symbolisieren sie aber auch den reinen erhöhten Körper, die reine Rede und das reine Bewußtsein eines Buddha.
Können unreiner Körper, Rede, und Bewußtsein in reinen Körper, Rede und Bewußtsein verwandelt werden, oder sind beide völlig voneinander getrennt? Alle Buddhas sind Beispiele, in denen Wesen wie wir selbst auf dem Weg schließlich zur Erleuchtung gelangt sind. Der Buddhismus behauptet nicht, daß es irgendjemand gäbe, der von Anfang an frei von Fehlern wäre und alle guten Qualitäten besäße. Die Entwicklung eines reinen Körpers, reiner Rede und reinen Bewußtseins geschieht dadurch, daß Schritt für Schritt die unreinen Zustände überwunden und in die reinen transformiert werden.
Wie ist das zu tun? Der Weg dorthin wird in den nächsten vier Silben angedeutet. Mani – das heißt Juwel – symbolisiert die Faktoren der Methode: die uneigennützige Intention, nach Erleuchtung zu streben, heilende Hinwendung und Liebe. Geradeso wie ein Juwel in der Lage ist, die Armut zu vertreiben, kann der uneigennützige Erleuchtungsgeist die Armut oder Schwierigkeiten des Kreislaufs der Wiedergeburten und des nur in Einsamkeit erzielten Friedens beseitigen. Ebenso wie ein Juwel die Wünsche der Lebewesen erfüllen kann, erfüllt der uneigennützige Erleuchtungsgeist die Wünsche der Lebewesen.
Die zwei Silben padme – das heißt Lotus – symbolisieren Weisheit. Gerade wie der Lotus aus dem Schlamm emporwächst, ohne daß seine Schönheit von dem Schmutz getrübt würde, so kann uns Weisheit in einen widerspruchsfreien Seinszustand versetzen, während wir in tiefe Widersprüche verstrickt blieben, wenn wir diese Weisheit nicht hätten. Es gibt Weisheit, welche die Vergänglichkeit aller Dinge erkennt, Weisheit, die erkennt, daß Personen leer sind in Bezug auf Selbstgenügen oder substantielle Existenz, Weisheit, dieLeere in Bezug auf Dualität erkennt, d.h. Leere in Bezug auf den ontischen Unterschied zwischen Subjekt und Objekt, und Weisheit, die Leere in Bezug auf inhärente Existenz erfährt. Obwohl es also verschiedene Arten von Weisheit gibt, ist unter diesen Weisheit, die Leere erfährt, die wesentliche.
Vollkommene Reinheit muß durch die unteilbare Einheit vom Methode und Weisheit erzielt werden, die in der letzten Silbe hum – sie bedeutet Unteilbarkeit – symbolisiert wird. Im Sutra-System bezieht sich die Unteilbarkeit vom Methode und Weisheit auf Weisheit, die durch Methode, und Methode, die durch Weisheit beeinflußt ist. Im Mantra- oder Tantra-Fahrzeug bezieht sie sich auf ein Bewußtsein, in welchem die volle Form von Weisheit und Methode als einer unteilbaren Wesenheit gegeben ist. Im System der Wurzelsilben für die fünf Sieger-Buddhas ist hum die Wurzelsilbe des Aksobhya – des Unbeweglichen, Unveränderlichen, der durch nichts gestört werden kann.
So bedeuten die sechs Silben om mani padme hum, daß man in Abhängigkeit von der Praxis des Weges, der eine unteilbare Einheit von Methode und Weisheit ist, den eigenen unreinen Körper, unreine Rede und unreines Bewußtsein in den reinen erhöhten Körper, reine Rede und reines Beuwßtsein eines Buddha verwandeln kann. Es heißt, daß man nach Buddhaschaft nicht außerhalb seiner selbst suchen solle, denn die Grundbedingungen für die Erlangung der Buddhaschaft liegen in uns. Wie Maitreya in seiner Höheren Wissenschaft des Großen Fahrzeugs (Uttaratantra) sagt, haben alle Wesen die Buddha-Natur in ihrem eigenen Bewußtseinskontinuum. Wir tragen den Samen der Reinheit, des Wesens des So-Gegangenen (Tathagatagarbha), das verwandelt und zu voller Buddhaschaft entwickelt werden muß, in uns.